M.O.

Donnergrollend spuckt mir das Loch eine dumpfe Klangwolke entgegen.
Jenes schwarze Loch, das mit eben diesen stampfenden Geräuschen tagtäglich unzählige Menschengestalten in sich verschlingt oder auskotzt wie unverdaute Nahrung aus Blechbehältern. 

U-Bahn-Station Berlin-Birkenstraße. 

Gollernd schaufelt sich der Triebwagen der letzten Nachtbahn durch den Tunnel gleich einer Geisterlore in einem ebenso geisterhaften Bergwerkstollen. Lauer, nach Schmiere und sich im Gewühl reibenden Menschenmassen stinkender Fahrtwind streift meine nachtmüden Augen, die sich schützend schließen.

Das saugende Geräusch der sich öffnenden Türen verliert sich im Donnern der in die Station einbrechenden Gegenlinie auf dem benachbarten Gleis. Meine Kneipenlichtverwöhnten Pupillen versagen mir im ersten Moment den Dienst, als ich die Lichtflut eines völlig leeren Wagens betrete. Der geübte Griff zur nächstbesten Haltestange verhindert den drohenden Sturz beim plötzlichen Anrucken des Zuges. 

„Hoppla“, kichert mir eine knabenhafte Stimme zu. Ich zucke erst einmal gehörig zusammen und schaue mich vergeblich nach dem Rufer um. Nichts. Leer. „Ich höre Stimmen“, durchfährt es meinen bierschweren Schädel. „Vielleicht fängt es so an, wenn man ...“ 

„Hie-ier!“ weist mir die Stimme eine Richtung, und ich staune nicht schlecht, als ich direkt neben der Waggontür einen unvorstellbar kleinen und komisch gekleideten Winzling entdecke. Burschikos kichernd lehnt der Gnom lässig an der Rückseite der letzten Sitzbank und zwinkert mir aus kleinen, grünen Äugelein zu. Einen Zwerg von solcher Winzigkeit habe ich noch nie gesehen, und im ersten Moment glaube ich an eine Fata Morgana. Sein etwa kartoffelgroßes Gesicht hat die Farbe einer Blutorange, das ganze Männlein mißt vielleicht nicht mehr als dreißig bis fünfunddreißig Zentimeter. 

Knallrote Stiefelchen, eine zitronengelbe Leinenhose und ein Jäckchen aus grobem, popelgrünem Stoff dienen ihm als Kleidung. Fast muß ich laut los- lachen. Aber schon im nächsten Augenblick ist der Zwerg verschwunden, und mein Blick ruht starr auf dem Fleck, auf dem er gerade noch gestanden hatte. 

„Jetzt bin ich blöde“, muß ich mir eingestehen und male mir in Sekundenschnelle meinen Lebensabend in einer festungsähnlichen Irrenanstalt aus: Zwischen den arzneigedopten Mahlzeiten wird man mich für den Rest meines erbärmlichen Lebens in einer Gummizelle ans Bett fesseln, mit Elektroschocks meine Reflexe testen, und nach Schweiß und sonstwas stinkende, uralte Krankenschwesterschabracken lachen sich ‘nen Ast über meine Gespräche mit dubiosen Zwergengestalten. 

Ein heftiges Zupfen am linken Hosenbein reißt mich jäh aus meiner Horrorvision. Beinahe erleichtert, vernehme ich in aller Deutlichkeit die Stimme des kleinen Mannes, als er mich fragt: „Würde es dir etwas ausmachen, mich auf diese Bank zu heben?“ und deutet auf den Sitz, der ihm vorher als Rücken- lehne diente. 

„Ich selbst bin zu klein, um hinauf zu klettern und von hier unten sehe ich dich so schlecht.“ Vor Überraschung gelähmt, stehe ich da. Wie vom Blitz getroffen, jeder Handlung unfähig, glotze ich blöd an mir herunter, mitten in ein orange-rotes Gesicht, das mich erwartungsvoll mustert. 

„Wer bist denn DUUUUU?!“ entfährt es meinen Stimmbändern, als hätte diesen Satz nicht ich selbst gesagt, und irgendwie habe ich sogar das Gefühl, daß ich zum Reden nicht einmal den Mund geöffnet hatte. 

Wie hypnotisiert reiche ich meine Hand herunter. Schwungvoll besteigt der Zwerg das Vehikel, setzt sich bequem auf den Handballen und baumelt belustigt mit den Beinchen. 
Nachdem ich ihn am gewünschten Platz abgesetzt habe, blinzelt er mir geheimnisvoll zu und flüstert vielbedeutend: „Ich bin ein Engel!“ Beinahe muß ich wieder loslachen, da färbt sich sein Gesicht plötzlich dunkelrot, und fast zischend fährt er mich an: „Ich wünsche, ernst genommen zu werden! Du hast keinen Grund, mich auszulachen. Es würde mir nicht im Traum einfallen, über deine Kleider zu spotten.“ 

Ertappt! Als könnte der kleine Mann meine Gedanken lesen. Ich erschrecke. Da fällt mir zum ersten Mal sein Haar auf. In der Aufregung der letzten Minuten hatte ich weniger einen Blick für meinen nächtlichen Gesprächspartner als Überraschung und ein wenig Beklemmung vor der Situation gehabt. 

„Gold!“, ja — seine winzigen Löckchen funkeln wie glänzendes Goldlametta und umrahmen das knabenhafte Gesichtchen wie ein Schleier aus warmem Licht.
„Entschuldige, aber ich habe mir einen Engel wirklich etwas anders vorgestellt ... ich ... meine ... Ah ... na ja, so was wie du, wohnt doch meistens im Wald, oder?“ Meine Unbeholfenheit läßt mich erst mal haufenweise dummes Zeug erzählen. 
Unterdessen senkt der Zwerg, als sei er plötzlich ganz traurig geworden, sein Goldköpfchen und brabbelt etwas Unverständliches vor sich her.

Irgendwie tut mir der kleine Mann leid, und ich beschließe, ihn ernst zu nehmen. „Ich heiße ‚Mo‘!“ Wie zur Versöhnung streckt er mir sein winziges Händchen entgegen und erklärt: „Es ist kein Zufall, daß wir uns heute, hier treffen.“ „So?“ entgegne ich verwundert und biete ihm zaghaft meinen kleinen Finger. „Martin. Freut mich, dich zu treffen. Aber sag, hast du nicht den falschen Mann? Ich meine, ich hatte eigentlich noch nie Glück im Leben und einen Schutzengel schon gar nicht.“ 

Mo dreht sich spielerisch um seine eigene Achse, macht eine ausladende Geste mit seinen winzigen Ärmchen und antwortet bedächtig: „Genau das ist der Grund, Martin. Ich bin gekommen, um dich auf etwas aufmerksam zu machen.“ „Wie meinst du das?“ Ich verstehe nur Bahnhof. „Weißt du, Kerle wie du, die sich ihr ganzes Leben nur mißverstanden, unbeachtet und betrogen von der Welt fühlen, haben etwas ganz entscheidendes nicht begriffen.“ „Und was wäre das?“ 

Fast schon verletzt es meinen Stolz, was der Gnom mir um halb vier Uhr morgens in einer gähnend leeren U-Bahn an den Kopf wirft. „Die zwei Ziele!“
Spricht‘s und beginnt mit gewichtiger Miene meine Reaktion auszuloten, als stünde er vor einer wichtigen Entscheidung. 

Schließlich rümpft er seine Knollennase und setzt zu einem Spaziergang auf der Sitzfläche der U-Bahnbank an. Die irrwitzig kleinen Hände hinter dem Rücken verschränkt, einen Fuß vor den anderen setzend, entfernt er sich von mir, als nehme er plötzlich seine Umgebung gar nicht mehr wahr. 

All das macht auf mich den Eindruck eines routinierten Rechtsanwalts, der sich auf sein stichhaltiges Plädoyer vorbereitet, indem er das hohe Gericht erst einmal mit unverhohlener Ignoranz ungeduldig macht. Plötzlich schaut er mir über seine linke Schulter mit überraschender Eindringlichkeit direkt in die Augen und sagt unerwartet laut, als wäre ich hundert Meter entfernt: „Die wenigsten Menschen erkennen den Sinn. 

Zeitlebens irren sie umher und suchen vergeblich so etwas wie Ruhe und Befriedigung zu finden. Die meisten warten gar immer nur, daß sich einige ihrer Träume erfüllen mögen, und wenn einiges davon zufällig klappt, nennen sie das ‚glücklich sein‘.

Einige von euch sind sogar blöde genug, dem ‚Glück‘ ein wenig nachhelfen zu wollen, indem sie sich vollständig dem Dienst der Gesellschaft unterwerfen. Der ‚Lohn‘ dafür ist in jedem Warenhaus zu besichtigen, wie einfältig ihr doch seid!“
Das sagt er mit übertriebener Abscheu, was allerdings eine gewisse Wirkung bei mir hinterläßt. „Dabei ist der Weg so einfach!“ unterbricht Mo seinen Monolog. 

Bei den letzten Worten hatte er sich ganz umgedreht und macht nun einen mächtigen Schritt auf mich zu. Der bedrohliche Effekt dieser Bewegung kommt mir mehr als absurd vor, und ich schreibe eine gewisse Aufregung dem eben Gesagten zu. Mo's goldene Häärchen scheinen nun etwas an Glanz zu verlieren, und auch die lustigen, grünen Augen ziehen sich in angestrengte Falten. 

„Bewußt dafür zu leben, Dingen zu entsagen, die dem persönlichen Wohl entgegenstehen, das ist das eine Ziel.“ Das schmettert er mir einfach so entgegen. „Das zweite folgt daraus: Man setze sich mit seinem Leben dafür ein, seine Ideale zu verfechten. Nur wer darüber die Angst vor dem Tod verliert, lebt wahrhaft große Sittlichkeit!“ 

Als hätten ihn diese Sätze über Gebühr entkräftet, wendet er sich erneut ab und scheint eine Reaktion von mir zu erwarten. Nun, die letzten Minuten hatten so einiges an Konzentration von mir abverlangt. Man wird nicht jeden Tag von einem Zwergenengel über den Sinn des Lebens belehrt. Ohne lange über Mo's Sätze nachzudenken, entgegne ich gelassener, als ich mich fühle: „Wer schafft das schon?“ 

Da dreht er sich ruckartig auf den Fersen um und läuft schnaubend vor Wut auf mich zu. Haßerfüllte Blicke treffen und erschrecken mich. Irgendwie steigt die Lufttemperatur im Waggon um ein paar Grad. Sollte er etwa die Macht haben „Du! Du bist es, der es schafft!“ brüllt er mich kreischend an. Vor Schreck gelähmt und ungläubig dreinblickend, frage ich etwas lauter, weil aufgebracht: „Wie meinst du das? Sprich doch in Gottes Namen nicht immer in Rätseln!“ Da senkt er den Kopf, wirkt ganz bedächtig und flüstert, nein, röchelt leise: „Nein, nicht in Seinem Namen!“ 

Und nach einer kurzen Pause etwas deutlicher: „Also gut. Ich will dir helfen zu verstehen, obgleich es zu spät für dich ist!“ Jetzt begreife ich gar nichts mehr.

„Was soll denn das Theater?“ schießt es mir durch den Kopf, und ich fange mir dabei ein hämisches Grinsen meines unheimlichen Gesprächspartners ein. „Klar doch, er kann meine Gedanken lesen.“ 

Irgendwie ist mir das zu blöd, aber seltsam genug, um mich so sehr zu fesseln, daß ich inzwischen schon drei Stationen zu weit gefahren bin. „Was meinst du?“
Aggressiv durch das Versteckspiel, dränge ich auf Klarheit. Mo räuspert sich kurz und blickt mich von unten her wie ein Polizist beim Ausfüllen des Strafzettels an. 

„Du schaffst es! Immer wieder. Ich mußte dich täuschen, Martin, ich mußte vorgeben ein anderer zu sein, um dich sicher zu haben. Du hast es immer wieder geschafft. Weil du dazu bestimmt bist, weil du gar nicht anders kannst, und jetzt ist es an der Zeit, deine Schuld einzulösen. Du hast es geschafft bei Julia, bei Simone und bei Claudia. 
Du schaffst es am Tag, in der Nacht, beim Einkaufen und im Schwimmbad. Du hast es immer wieder geschafft, Spaß daran zu finden, dich dabei auszugleichen, ‚es‘ zu brauchen und darin deine uralten Wurzeln zu finden. 

Nein, die zwei Ziele sind dir nicht fremd. Du mußt nicht lernen, damit umzugehen. Wie im Guten, so im Bösen, man kann es drehen und wenden, wie man will. Nur über die Sittlichkeit deiner Taten läßt sich streiten. Immerhin warst du ihr schärfster Widersacher. Du hast deine Aufgabe gut erfüllt.“
Zosch! Wie ein heftiger Schlag ins Gesicht treffen mich diese Sätze. Er weiß alles. Woher? Warum? Was will er nur von mir? Nackte Angst schüttelt mich. „Im Alter von fünfzehn Jahren fing alles an, nicht wahr? Elsa war ein schönes Kind, fürwahr.“ 

Pause. 

Beinahe verliere ich die Gewalt über mich. Woher kann er davon wissen? Eine schreckliche Vision packt mich, aber schon erzählt er weiter: „Eines Abends, deine Eltern waren erst am Vortag in den Urlaub gefahren, trafst du Elsa in der Diskothek am Marienplatz. 
Schon jahrelang hattest du ein Auge auf sie geworfen, wie man so sagt. Aber alle Versuche, ihre Gunst zu gewinnen, endeten in der Lächerlichkeit deiner unterentwickelten Persönlichkeit.

Elsa war mit engen, knackigen Jeans und einem knappen T-Shirt bekleidet, noch nie war sie so schön wie an diesem Abend ...“ „Hör auf!“ unterbreche ich ihn barsch. „Was willst du von mir?“ 

Meine innere Unruhe und die Angst verrate ich durch ein heftiges Zittern in der Stimme. Schnell erhebt Mo gebieterisch seine Hand, was mich sofort verstummen läßt. Zu groß ist inzwischen meine Verzweiflung, ich ahne, was folgen mag. Leise, aber streng und ungemein überlegen fügt er hinzu: „Meinst du nicht auch, daß Elsa auf der Stelle davongelaufen wäre, hätte sie auch nur eine Ahnung davon gehabt, was sich Stunden später im Keller eures Hauses abspielen sollte?“ 

„Hör auf!“ brülle ich schmerzvoll, und diesmal trifft mich ein Blick unbeschreiblichen Hasses. 

Eiskalte Wasserfälle ergießen sich über meinen Rücken, aber Mo läßt mir keine Sekunde Zeit: „Ich weiß alles, Martin. Ich weiß von Elsa, von Simone, von Claudia, von der kleinen Kathrin — sie war nicht einmal neun Jahre alt. Und du hast es jedesmal geschafft. 

Jedesmal war es ein Erlebnis besonderen Genusses für dich, NEIN — betrogen hast du dich selbst niemals. Du hast deine Triebe, dein gesamtes bestialisches Innenleben stets unverblümt auf deine Außenwelt übertragen. Das ist dein Erbe, ich mache dir keinen Vorwurf. Aber es ist an der Zeit, daß du erfährst wer du bist.“ Stille. 

Ein unaufhaltsam näherrückender Ohnmachtsdruck erschleicht sich von meiner Magengegend her einen magmaheißen Weg bis in meinen Hals, der mir sofort erstarrt. Meine Augen beginnen zu brennen, und machtlos, einem kleinen, lächerlichen Winzling ausgeliefert, der zu nächtlicher Stunde Gericht über mich hält, starre ich in die Leere vergangener Tage. 

Der Zwerg nähert sich unaufhaltsam wie die Bilder, die seine mittlerweile mehr als bedrohlichen Sätze in mein Gedächtnis rufen. Längst unfähig, mich in irgendeiner Form zu wehren, zu türmen oder gar um mich zu schlagen, starre ich in schmerzzerrissene Mädchengesichter. Das schutzlose Fleisch zwischen samtweichen Mädchenbeinen, entsetzt-ohnmächtige Blicke all der bekannten Gesichter, wenn ich, im Lustrausch verloren, in die Blutwärme eintauchte. 

Immer und immer wieder erlebe ich diese Augenblicke voll geiler Gier, nasser Lust und warmen Gestanks aufgerissener Leiber. Mo berichtet jedes Detail, jedes meiner kranken Gefühle ist ihm bekannt, aber Voll Entsetzen bemerke ich, daß er den Mund nicht bewegt, kein Wort redet, und doch vernehme ich die Geschichte eines Monsters, eines barbarischen Henkers mit seinen Worten, aber nicht durch ihn gesprochen. 

Die Geschichte von über vierzig jungen Frauen und kleinen Mädchen, die Geschichte eines wilden Tieres — meine Geschichte! 

Die Schmerzen sind inzwischen unerträglich geworden, ich habe das Gefühl, bei lebendigem Leibe zerrissen zu werden. Mo hält inne. Todesstille, absolute Leere und unglaubliche Erschöpfung. Wie im Traum nehme ich wahr, was passiert, entkräftet, verzweifelt und starr vor Entsetzen. 
Der Zwerg hat sich verändert. Sein goldenes Haar sprüht feurige Funken, die grünen Augen scheinen mich in tausend Stücke schneiden zu können, und erst jetzt bemerke ich die unmenschlich große Hitze im Waggon. 

Es müssen siebzig oder achtzig Grad sein, der Schweiß läuft mir in Strömen herunter. Vornübergebeugt beglotzt mich der nun gräßlich häßliche Gnom und knattert mir entgegen: „Du hast es immer so gewollt. Du hast es aus purer Lust getan. Martin, und du weißt das.“ 

Als wäre ihm etwas ganz Wichtiges eingefallen, dreht er sich um und läuft davon. Am anderen Ende des Waggons sieht er zurück und lacht markerschütternd laut und schrill „Ich mußte mich verstellen, um dich zu kriegen. Du hast die Grenze erreicht, deine Aufgabe ist vollbracht, und nun, mein Lieber, habe ich eine besondere Überraschung für dich.“ 

Ich bin auf alles gefaßt. „Mein Name ist nämlich nicht wirklich Mo. Das heißt: nicht nur. Vielmehr ist das eine Abkürzung!“ Plötzlich durchfährt mich ein heftiger Blitz aus seinen Laseraugen. Seine Hände glühen weiß und richten sich auf mich. Kaum eine Zehntelsekunde vergeht, gleißendes Licht blendet mich total, und in Bruchteilen eines winzigen Augenblickes trifft mich ein Schlag von solch unvorstellbarer Gewalt, daß ich sicher bin, nie wieder aufzustehen. 

Die Wucht des Aufpralls scheint mich zu zerschmettern, dann weicht alles von mir. Irgendwann komme ich zu Bewußtsein. Alles ist anders. Alles!
Zunächst fehlt mir jede Erklärung für dieses Gefühl, doch langsam lichten sich die Nebel. Plötzlich ist alle Last von mir genommen. Jedes Gewicht, jeder Gedanke, jede Idee verliert sich im NICHTS, von dem ich nicht weiß, ob ich es verstehe.

Alles, was ich meine zu sein, ich selbst und alles Gewesene füllt den U-Bahn-Waggon aus. Meine leblose Hülle liegt am Boden, Verbranntes Fleisch raucht knisternd vor sich hin, ich bin gestorben! Aber wie kommt es, daß ich alles so deutlich wahrnehme? Ich bin in diesem Waggon, überall in ihm und habe das Gefühl, mich beim Aussteigen in alle Winde zu verströmen. Panische Angst übermannt mich, ich drehe mich immer schneller werdend um mich selbst und habe Angst, Angst und Angst. 

Bei mir sind all die blutenden, stinkenden Leichen meiner kindlichen Opfer, und es scheint, als wollten sie mich unter sich begraben. Gesichter und Stimmen. Schreie und qualvolle Blicke reißen an mir, als wollten sie mich erdrücken. Plötzlich entdecke ich etwas außerhalb des Wagens. Ich kann nicht sagen, wie ich sehe. Augenlos, hirnlos. 

Ich sehe deutlich und dreidimensional, oder besser: Ich nehme es wahr. Mit welchen Sinnen auch immer. Ohne Körper bin ich in diesem Raum. Unbeschränkt, und was ich erblicke, versetzt mir den nächsten Stoß unvorstellbaren Ausmaßes. 

Kaum wage ich es zu glauben: Ein riesiges Gebilde schwebt da im Raum außerhalb des Waggons! Überdimensional, gigantisch und angst-einflößend. Planetenähnlich, ganz so wie der Saturn, beringt und unvorstellbar schön.
Ich glaube zu träumen. Pures Entsetzen, blindmachende Verzweiflung herrschen über mich. Erst jetzt bemerke ich, daß der Zwerg verschwunden ist. Plötzlich höre ich seine Stimme, gewaltig, donnernd und alles übertönend: „Du hast es geschafft, Martin! Du bist wieder daheim!“ 

Wie ist dein Name?“ höre ich einen Schrei von brachialer Gewalt von mir ausgehen. 

„Keinen Augenblick habe ich gezweifelt, daß du deine Aufgaben erfüllen wirst.“ dröhnt es zurück, ohne daß meine Frage beantwortet worden wäre.
„Wie heißt du?“ brülle ich nochmals. 

Die schreckliche Ahnung will mich zerstören, aber wieder antwortet er nicht. Da sehe ich plötzlich eine riesige Flamme, kilometerhoch, aus dem Nichts unter mir emporschießen. Gleich darauf noch eine, und dann steht alles in Flammen, oder ... nein, es sind Mo's Haare, sie brennen lichterloh und haben das Ausmaß dieses riesigen Planeten vor mir. 

Von unten her taucht sein Gesicht auf und sein Körper, alles von gigantischer Größe. Seine grasgrünen Augen blicken mich direkt an, sein feuerrotes Gesicht waben ädrig, wie Lava kurz vor dem Ausbruch. Seine Stimme klingt wie berstender Stein: „Auch dein Name ist nicht der richtige!“ grollt es von überall her.

„Willkommen daheim, Kain!“
„Wie heißt du?!“ 

Ich bin außer mir. Nur noch in der Lage, alles zerstörend zu brüllen, immer wieder dieselbe Frage: „Was heißt ‚Mo‘? Wer bist du?... BITTE!“ 

Urknall-donnerndes Lachen dröhnt überall. Die Blicke des Zwergenmonsters peitschen mein tiefstes Inneres in unsäglichen Qualen, die Mädchenleichen um mich herum und in mir scheinen hämisch-zornig zu lachen. 

Mo's Antwort nimmt mir jeden Sinn, jedes Wort und trifft meine Ahnung mit vollendeter Härte: „Man nennt mich: MEPHISTOPHELES!“ 

...
Randnotiz in der Berliner Abendzeitung vom 12. Juli 1992: ...wurde die Leiche des 25jährigen Martin S. gefunden. Schwere Verbrennungen bis hin zu Verkohlungen an manchen Körperpartien stellen die Polizei vor ein Rätsel, zumal der U-Bahn-Waggon keinerlei Brandspuren oder Hitzeauswirkungen aufweist.

Der Leichnam erweckt den Eindruck, als hätte er sich von innen her selbst entzündet. 

Ein Polizeisprecher bestätigte, daß Martin S. mit einer Serie brutaler Vergewaltigungsverbrechen und Verstümmelungen von mindestens elf Mädchen und Frauen im Alter zwischen acht und neunzehn Jahren in Verbindung gebracht wird. Selbstjustiz als Racheakt eines der Opfer kann nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen nicht ausgeschlossen werden ...“

*Hier klicken zum Start des Erzählungsbandes -> “M.O. Und andere Geschichten aus dem 4. Reich” von Jens Thieme, 1994.
Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

https://jens.thie.me
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