Letzte Worte auf verkohltem Papier
„Höre nie auf anzufangen! — Fange nie an aufzuhören!“
Diese in goldenen Lettem geprägten und in zierlichem Rahmen gefaßten Worte hatten Udo all die Jahre hindurch begleitet. Wie die Fotografie eines geliebten Menschen stand das Bildchen mit dem Spruch auf seinem Schreibtisch. Manches Mal hatte er alles einfach hinwerfen wollen. So viel Leid, Haß und Elend, Gewalt, Brutalität, Perversion — nichts, was er nicht hautnah hatte miterleben müssen.
Sozialarbeiter in einem zivilisierten Land, ausgehendes zwanzigstes Jahrhundert, inmitten Europas. Unglaublich, wie schnell man da vom Idealisten zum abgeschotteten Paragraphenreiter werden konnte. Aus Edelmut, aus Abscheu, aus Frust oder zum Selbstschutz.
Viele von Udo’s Kollegen wehrten sich gegen die Vereinnahmung ihrer Gefühle durch ihre Arbeit, jeder auf seine eigene Weise. Außer Udo. Ihn riß es nach wie vor hin und her zwischen Anteilnahme, mitempfundenem Leid und Ratschlag. Sprachlos machten ihn vor allem das unvorstellbare Ausmaß an Gewalt in allen Schattierungen und die allzu schnelle Gewöhnung daran. Wieviel kann ein Mensch davon ertragen? Wie lange vermag er zu leiden unter seelischer Folter und Liebesverlust?
Diese und andere Fragen waren für Udo stets der Treibstoff zum Weitennachen, längst war aus einem anfänglichen Neunstundentag inzwischen ein Leben fast ohne freie Minuten geworden. Seine Kollegen sparten deshalb nicht mit offener Ablehnung. Man müsse trotz allem Edelmut Distanz wahren, hieß es immer.
Aber für Udo waren seine Tätigkeit und die Möglichkeit der Hilfe für Bedürftige zum Lebensinhalt geworden, dem er wie von selbst alles hintanstellte. Jeden Tag nach Arbeitsschluß zog es ihn in die Straßen, in denen er selbst seine Jugend verbracht hatte. Hier kannte man ihn. Die Alkoholiker, die Stricher, die Fixer und auch die Dealer. Ziemlich ungewöhnlich für einen Sozialarbeiter, aber Udo hatte schnell begriffen, daß er ganz allein auf sich gestellt rein gar nichts gegen die Händler und Hehler unternehmen konnte.
Um den Kids zur Seite zu stehen, sich um ihre Probleme zu kümmern, mußte man eben auch damit leben. Und damit, daß es immer Dealer geben wird, ganz gleich wie aggressiv man gegen sie auftritt. Auf gleiche, frustrierende Voraussicht muß wohl ein Polizist eingestellt sein, wenn er den immer fortschrittlicher werdenden Verbrechensmethoden ständig nachläuft.
Im Laufe der Jahre hatte Udo einige von den Dealern kennengelernt, und so fand er immer mehr die geeigneten Mittel und Worte, den Großteil von ihnen wenigstens von den Kindern fernzuhalten. Inzwischen war die Straße für ihn ein zweites Zuhause geworden, und die Resonanz im ganzen Revier gab seinem unermüdlichen Einsatz recht. So manches Mal hatte er für seine Klienten verrammelte Tore gestürmt, war von einem Amt zum anderen gerannt, hatte sich mit Jugendämtern und Juristen angelegt.
Die Hoffnung und fortwährendes Dranbleiben gaben ihm den Mut und die Kraft, jedes Mal aufs neue eine Lanze zu brechen. Für die Verlorenen, die Vergessenen und die Nutzlosen der Gesellschaft. Dabei blieb zwar die Befriedigung allzu oft auf der Strecke, aber selbst Rückschläge verhalfen ihm zu noch mehr Engagement. „Beim nächsten Mal klappt’s bestimmt“, tröstete er sich immer wieder über Enttäuschungen hinweg. Udo's Freundin Yvonne konnte ein Lied von solchen Rückschlägen singen. Und von der Grausamkeit unter den Menschen, von der sie trotz ihrer etwas weiteren Distanz oft genug schwer schockiert war. Aber in erster Linie versuchte sie, ihrem Udo zu helfen, wo es nur ging. Denn auch sie war von der Richtigkeit seiner Arbeit überzeugt. Dabei kannte auch sie Udos verzweifelte Wünsche, einfach alles hinzuwerfen.
Immer wenn sich eine Phase der Erschöpfung andeutete oder die Schwere der Ereignisse beinahe zur Aufgabe zwangen, redete sie ihm Mut zu und verstand es, besonders aufmerksam auf seine gepeinigten Gefühle zu reagieren. Seiner Liebe war sie sich ganz sicher, und auch Udo konnte sich diese Art Engagement kaum ohne Yvonne vorstellen. So packte Udo viele Jahre dort an, wo andere sich scheuten einzugreifen. Er vergrub sich im Dreck der Gesellschaft wie ein Regenwurm, um Licht in das Dunkel zu bringen und sein Lebenswerk dort zu verrichten, wo Millionen andere drauf treten.
Udo wurde zum Gewährsmann für einen letzten Halt für viele Straßenkinder und Drogensüchtige. Seine Arbeit wurde gelobt, die Erfolge für seine minderbemittelten Klienten häuften sich, und so kam, was irgendwann einmal kommen mußte. Gegen die Versetzung hatte sich kaum ein geeignetes Mittel finden lassen. Das Argument. um „seine Leute“ würde sich jetzt niemand mehr kümmern, hatte niemand gelten lassen, und man hatte ihm mit Hinweis auf die Probleme in diesem Wohngebiet versichert, daß ohne seine Hilfe noch mehr Menschen in Elend leben müßten.
Noch wußte Udo nichts von diesem neuen „Projekt“, aber bei dem Gedanken, das mühsam Errichtete den Gesetzen der Straße zu opfern, geriet er in Wut. Auch wenn seine neue Aufgabe ähnliche Ziele verfolgen sollte. In einem neuen Büro, abgetrennt vom sonstigen Betrieb seiner Behörde, richtete er sich schlechten Gewissens ein. Immer wieder erschienen ihm die alten Gesichter der Straßenkinder und der Mädchen, die für ihre Sucht jeden Tag Dutzende von Männern am Autostrich befriedigen mußten oder mit kleinen Diebstählen das Drogengeld besorgten. Was würde nun aus ihnen werden? Wie lange kann es dauern, bis ein Nachfolger ihr Vertrauen gewinnen kann, wenn überhaupt? Hätte er nicht einfach die neue Stelle ablehnen sollen?
Aber sich Bedürftigen zu verweigern widersprach seinem Idealismus, und so blickte er bangen Herzens, aber nicht ohne innere Anspannung den neuen Aufgaben entgegen. Eine erste Schulung hatte nach wenigen Tagen erste Erkenntnisse gebracht. Bei dem neuen Projekt handelte es sich um „Observierungen mutmaßlicher Gewalttaten an Kindern“, wie der Kursleiter es ausdrückte. Im ersten Moment hatte Udo ein undeutliches Ablehnungsgefühl bekämpfen müssen. Am dritten Kurstag wurde er nach längeren, vorbereitenden Gesprächen einem zehnjährigen Mädchen vorgestellt, das sieben Jahre lang von ihrem eigenen Vater vergewaltigt worden war. Udo glaubte seinen Sinnen nicht trauen zu können.
Ein technischer Angestellter hatte, unbeachtet von der Öffentlichkeit, sein eigenes Kind im Alter von drei Jahren sexuell mißbraucht. Sieben lange, grauenvolle Jahre hatte er sich an der kleinen Evelyn vergangen, ohne daß eine Menschenseele am Verhalten des Kindes Anstoß genommen hätte. Die Pflegeeltern des Mädchens machten auf Udo einen angestrengten und zermürbten Eindruck. Im Gespräch mit der Pflegemutter waren für ihn seelische Abgründe ersichtlich geworden, die ihm den Atem stocken ließen.
Niemals hätte er sich träumen lassen, in einen derartigen Strudel von Schmerzen und unvorstellbaren Seelenqualen gerissen werden zu können. Beim kurzen Anblick des völlig desolaten Kindes rannen ihm schließlich die Tränen in Strömen herunter. Die nachfolgenden Kurstage waren von unsäglicher Pein für Udo, und mit übergroßer Deutlichkeit zeichnete sich die absolute Notwendigkeit seiner neuen Aufgabe ab. Begleitet von Polizeiberichten, Gerichtsurteilen, medizinischen Befunden und psychiatrischen Gutachten, die er täglich in großen Mengen studierte, ging etwas in ihm den Weg durch scheußlichste Schluchten menschlicher Brutalität. Am häufigsten stellte er sich die Frage, wie derartige Verbrechen von der Ignoranz der Masse gedeckt werden könnten. Sein Feierabend beschränkte sich über Monate hinweg auf den Morgenkaffee und die schlaflosen Nächte voller Pein.
Sein Eifer gebot ihm strengste Disziplin und rückhaltlose Hingabe zur neuen Aufgabe. Yvonne hatte bereits nach zwei Wochen jede Hilfestellung für Udos schwer belastetes Gemüt aufgegeben. Sie kapitulierte vor einem destrukturierten Bündel hektischer Betriebsamkeit, wenn es um die Studien der sich auf dem Wohnzimmertisch stapelnden Aktenberge ging. Für ein liebes Wort, eine Kuschelstunde, eine ernste Aussprache oder einen besinnlichen Nachmittag war Udo überhaupt nicht mehr bereit. Seine Rechtfertigungen konnten weder moralisch noch inhaltlich angezweifelt werden, aber dieses Unbeachtetsein und Dahinvegetieren schmerzte sie unablässig.
Selbst als sie ihm einmal nachts ihre verletzten Gefühle bewußt machen wollte, schien er kaum aufnahmefähig zu sein. Die überaus brutalen Geschichten von Kindesmißhandlungen und Strafprozessen konnte sie irgendwann nicht mehr verkraften, und so beschloß sie, sich gefühlsmäßig so weit als möglich davon zu distanzieren. Andernfalls drohte ihr der Verstand zu versagen. Irgendwann würde er nicht mehr so weiter machen können. Ewig kann sich ein Mensch nicht derartig schinden. Sie müßte nur geduldig warten können, bis die ersten, schlimmen Monate vorüber wären.
Udo's erster Fall begann mit einem Paukenschlag. Auf eine Vermißtenanzeige der Schule hin wurde nach einem achtjährigen Jungen gefahndet, der eine Woche lang dem Unterricht fern geblieben war. Da die Eltern verreist und der Junge offensichtlich von seinem großen Bruder eher halbherzig betreut worden war, hatte der kleine Andreas einen Ausreißversuch unternommen. Nachdem er in einem Zug, zweihundertfünfzig Kilometer von zu Hause entfernt, von der Bahnpolizei aufgegriffen wurde, hatte er den Beamten von seinem „bösen Papa“ erzählt. Anfangs wurden die Geschichten des Jungen nicht ernst genommen, bis eine Nachbarin beim zuständigen Polizeirevier von seltsamen Vorgängen in der elterlichen Wohnung des Jungen berichtete. Die entsprechende Meldung las Udo mit großer Aufmerksamkeit, und so begann er im Rahmen seines Auftrags zu recherchieren.
Die Eltern von Andreas hatten nach ihrer Rückkehr aus den Ferien eine polizeiliche Aussage gemacht, an der nach Udos Meinung irgend etwas nicht stimmen konnte. Die Stellungnahme der Schule las sich wie das Strafregister eines jugendlichen Kriminellen. Da war ein gerade mal achtjähriger Junge, der offensichtlich seine Umwelt tyrannisierte und sich kaum wie ein normales Kind seines Alters verhielt. Hier galt es anzusetzen.
Der Beamte, der die Aussage der Eltern protokolliert hatte, sagte zu Udo: „Also wenn Sie mich fragen, lieben die ihren Sohn nicht besonders. Der Vater war irgendwie aalglatt, und die Mutter, naja . Auch von verschiedenen Nachbarn und Bekannten hörte Udo Ähnliches. Da niemand einen Verdacht gegen seine Ermittlungen schöpfen durfte, waren umfangreiche Vorbereitungen vonnöten. Aus Gesprächen mit Lehrern und Nachbarn ergaben sich immer wieder Erkenntnisse, wen man als Informanten gewinnen konnte, ohne den Erfolg der Ermittlungen zu gefährden. Mit zunehmendem Kenntnisstand der Lebensverhältnisse und der Charaktere der Eltern, gewann Udo den Eindruck, daß dem Jungen geholfen werden müsse.
Die allgemeinen Beobachtungen führten mehr und mehr zu dem Schluß, daß seine offenen Feindseligkeiten gegen andere Kinder und sein scheinbar aggressives Wesen Ursachen haben mußten, die man wohl in den häuslichen Lebensverhältnissen zu suchen hatte. Eines Tages rief der Direktor der Schule in Udo's Büro an. Eigentlich war er ihm als gelassener und überlegener Gesprächspartner in Erinnerung. Aber mit auffälliger Verzweiflung in der Stimme bat er Udo, sofort in die Schule zu kommen, die Polizei wäre auch schon da.
Bei seiner Ankunft auf dem Schulhof bot sich ihm ein ungewohntes Bild. Dutzende von Schülern jeden Alters standen umher, einige diskutierten aufgeregt, andere wieder senkten den Kopf. Eine Anzahl Lehrer, von denen die meisten bereits mit Udo gesprochen hatten, verstummten sofort, als sie ihn bemerkten. Der Direktor, der unweit der Lehrergruppe einem Polizisten gegenüberstand, kam kopfschüttelnd und sichtlich verwirrt auf Udo zu und sagte: „Es ist etwas Schreckliches passiert. So was habe ich noch nie erlebt ‚ dabei rang er sichtlich nach Fassung.
Udo schaute ihn eindringlich an und fragte: „Andreas‘?“ „Ja. Heute morgen hat er durchgedreht. Er hat sich mit einer Schülerin seiner Klasse vor dem Unterrichtsbeginn in der Toilette eingesperrt. Er hat sie mit ihrem Kleid gefesselt, den Mund mit einem Strumpf verbunden und mit einem Feuerzeug ihre Haare in Brand gesteckt. Stellen sie sich das mal vor. Wenn durch das Poltern an der Toilettentür nicht eine Schülerin aus der Zehnten aufmerksam geworden wäre, hätte er sie vermutlich umgebracht.“
Udo stand da wie vom Blitz getroffen. Wie konnte ein Junge in der zweiten Klasse auf so eine schreckliche Idee kommen? „Ist sie verletzt?“ „Gott sei Dank nicht. Ihre Fußtritte gegen die Tür wurden gerade noch rechtzeitig bemerkt.“ „Wo ist er jetzt?“ fragte er kleinlaut. „Im Direktorzimmer. Zwei Polizeibeamte sind bei ihm.“
„Und die Eltern?“ Der Direktor verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Sind wieder mal im Urlaub“ „Das gibt‘s doch nicht“, hörte Udo sich sagen und nahm Kurs auf das Schulgebäude. Das folgende Gespräch mit dem Jungen, übrigens der erste direkte Kontakt mit Andreas, kam ihm vor wie ein Alptraum. Da saß ein kleiner Junge voller Haß vor ihm, der einem ebenso kleinen Mädchen wahrscheinlich einen Schock fürs ganze Leben versetzt hatte, und blickte stur auf den Boden, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Sämtliche Bemühungen, den Jungen zum Sprechen zu bewegen, schlugen fehl. Die Eltern des Mädchens waren zutiefst schockiert und mußten von Andreas fern gehalten werden.
Nachdem der Junge auf Udo's anraten in ein Kinderheim gebracht wurde, weil zu Hause keine Menschenseele anzutreffen war, fuhr er zurück ins Büro, um die entsprechenden Formalitäten abzuklären und nach Möglichkeiten für sein weiteres Vorgehen zu suchen. Stundenlang saß er dort vor seinem Schreibtisch, starrte den kleinen Bilderrahmen mit dem Spruch an, der ihm so oft Kraft verliehen hatte, und weinte wie ein Kind. Am nächsten Vormittag wurde er von einem Streifenwagen vom Büro abgeholt. Der zuständige Staatsanwalt hatte in der Nacht aufgrund der Aussagen des Jungen, der irgendwann doch geredet hatte, einer Haussuchung zugestimmt.
Auf den ersten Blick fanden die Beamten eine gemütliche und normal eingerichtete Wohnung vor. Andreas‘ Kinderzimmer unterschied sich nicht wesentlich von denen anderer Kinder seines Alters. Ein erster Fund im Schreibtisch der Eltern machte Udo aufmerksam. Da lag ein Porno-Kontaktheft, aufgeschlagen und mit einem Foto der Mutter, die er wiederum auch nur von Fotos her kannte. In eindeutiger Pose, nackt, mit einem Penis im Mund (mehr war von dem beteiligten Mann nicht zu sehen), untertitelt mit den Worten: „Blasgeile, samendurstige Ficksau schluckt alles! Kennenlernfotos für DM 20.“ und so weiter. „Bingo!“ rief ein Polizist aus dem Schlafzimmer, und als Udo zusammen mit den anderen Beamten in das Zimmer trat, hielt einer der Uniformierten einen Stapel Fotos in der Hand.
Darauf waren Dutzende fremder Männer beim Geschlechtsverkehr mit Andreas‘ Mutter zu sehen. Auf einigen Bildern sah man den kleinen Jungen. Meistens beim oralen Verkehr mit wildfremden Männern und Frauen oder auf dem Rücken liegend, mit gespreizten Beinen, während verschiedene Männer anal in ihn eindrangen. Das schmerzverzerrte Gesicht des Kleinen war meistens der Kamera abgewandt. Nach längerer Untersuchung der Wohnung wurden verschiedene sexuelle Hilfsapparate und allerlei undefinierbare Gerätschaften gefunden.
Udo wurde es schlecht, und seine grenzenlose Wut wandelte sich in rasende Aufregung und puren Haß gegen die Ungeheuer, denen dieser kleine Junge ausgeliefert war. Taumelnd verließ er nach drei Stunden Haussuchung die Wohnung. Als er zu Hause ankam, wollte er nur noch ein heißes Bad und seine Ruhe. Yvonne lag auf dem Sofa im Wohnzimmer unter Kopfhörern. Als sie ihn hereinkommen sah, stand sie auf, legte die Kopfhörer auf den Boden und blickte ihn lange an. Da wußte sie, daß etwas Scheußliches passiert sein mußte. „Willst du drüber reden?“
„Nein. Ich will nur noch meine Ruhe. Ich bin total fertig.“ Da stellte sie sich ihm in den Weg und begann heftig zu weinen. Daß der Zeitpunkt ungünstig war, wußte sie. Aber plötzlich konnte sich nicht mehr schweigen. Mit zitternder Stimme rief sie ihm zu, während er sich zum Gehen wendete: „Und ich? Ich bin seit Monaten total fertig! Du registrierst mich nicht mal mehr. Jede Nacht liege ich wach und überlege, wie ich unsere Beziehung retten kann, und was machst du? Ziehst dich zurück und läßt mich verhungern. Udo, ich kann nicht mehr!“
Kaum wahrnehmungsfähig hörte er ihr Klagen, war aber unfähig, darauf zu reagieren. „Hör mir wenigstens einmal zu! Ich weiß, wie schwer du es hast und daß es jetzt nicht der Moment ist, aber was ist mit mir? Ich kann nicht mehr warten, keine Sekunde länger!“ Langsam stieg Wut in ihm auf. Nach diesem Tag war er außerstande, irgend etwas zu hören. Weder Yvonnes Klagen, noch sonstwas. „Udo! Ich halte das nicht mehr aus!“ „Dann geh doch!“ brüllte er sie an und warf die Badezimmertür hinter sich zu. Jetzt war ihm alles egal. Als er zur Besinnung kam, hörte er eine krachende Tür und sich schnell entfernende Schritte im Flur. Yvonne war gegangen! Weg. Kein Brief, kein letztes Wort. Aber das hatte doch er gesagt.
„Oh Gott“, zischte er vor sich hin und wollte nicht begreifen, was er da angerichtet hatte. Bei allem Wahnsinn seiner Arbeit, bei all den Schmerzen, die er für andere empfunden hatte, hatte er lange Zeit Yvonnes Gefühle außer acht gelassen.
Es folgte eine Höllennacht. „Wo mag sie hingegangen sein? Wie konnte ich so ein Trottel sein?“ Diese und viele andere schmerzhaften Fragen stellte er sich immerzu und sann nach einer Lösung. Über den Tränen und Selbstvorwürfen schlief er schließlich ein. Am Morgen kam ein grausames Erwachen. In der ersten Stunde im Büro kritzelte er auf Papier herum oder weinte in sich hinein. Die schrecklichen Entdeckungen in der Wohnung der Eltern des gepeinigten Jungen rückten in den Hintergrund.
Nach dem Frühstück begann er einen wehmutsvollen Brief zu schreiben. "Diese Welt ist so voll mit unbegreiflicher Grausamkeit. In diesem Augenblick mit großen Worten um mich zu werfen, halte ich für absolut falsch. Ich habe Dich unter den Einblicken in die Welt, die ich durch meine Arbeit habe, leiden lassen. Ich schäme mich so! Wenn ich nur nicht so ein Trottel gewesen wäre, Dich so zu vernachlässigen. Das alles hast Du nicht verdient, und ich wollte, mir würden die rechten Worte einfallen, Dir zu versichern, daß ich letzte Nacht vieles erkannt habe, was ich falsch machte. Ich weiß ja nicht mal, wo Du jetzt steckst. Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief über Deine Eltern. Ich liebe Dich so sehr, aber das habe ich wohl einige Zeit hinter meine Arbeit gestellt. Wie kann ich Dir sagen, daß ich Dich so sehr brauche? Ich mache mir größte Vorwürfe! Jetzt Schluß zu machen, muß irgendwie eine Erleichterung für Dich sein. Zu lange habe ich Deine Selbstsicherheit verletzt Alles tut mir so leid. Was kann ich tun, damit Du zu mir zurück kommst? Ach, wenn Du Dich doch melden würdest..."
Er nahm sich vor, nach der Arbeit diesen Brief bei Yvonnes Eltern einzuwerfen. Das lag gerade auf dem Heimweg und war die einzig sichere Möglichkeit, daß sie die Zeilen bekam.
Im Laufe des Tages erhielt er die Nachricht, daß Andreas‘ Eltern in Hannover während einer Sexparty verhaftet worden waren. Dem umfangreichen Geständnis der Mutter zufolge, hatte der Junge seit dem Säuglingsalter perverseste, sexuelle Exzesse über sich ergehen lassen müssen. Der Vater hatte sein eigenes Kind zudem mit Schlägen und gar mit Elektroschocks bis zur Bewußtlosigkeit gequält.
Dubiose Sexfreunde waren jahrelang von weither angereist. um an den grauenhaften Szenarien teilzuhaben. Nach Aussagen des Staatsanwalts würden die den Eltern zur Last gelegten Verbrechen ausreichen, um sie für mindestens fünfzehn Jahre hinter Gitter zu bringen. Andreas‘ Verfassung gebot es nun, für geeignete Unterbringung und entsprechende psychiatrische Behandlung zu sorgen. Das sollte in den nächsten Tagen Udos Aufgabe sein. Unter den gegebenen Umständen müßte er nie wieder diese Monster, die sich seine Eltern nannten, zu Gesicht bekommen.
Inwieweit der Junge allerdings überhaupt jemals in der Lage sein würde, ein halbwegs normales Leben zu führen, konnte natürlich niemand abschätzen. Auf jeden Fall hatte die Horrorgeschichte ein Ende gefunden. Nun müßte man alles versuchen, die schlimmsten Folgen für den kleinen Andreas zu lindern. Auf dem Heimweg zitterte Udo am ganzen Leib. All die Ereignisse und sein schrecklicher Fehler Yvonne gegenüber hatten ihn nicht nur seelisch schwer mitgenommen. Aber er wußte jetzt, was zu tun war. Er mußte Yvonne wiederfinden und ihr viel Zeit geben, damit sie sich davon überzeugen konnte, daß er begriffen hat, was er angerichtet hat.
Nie wieder wollte er, bei aller Wichtigkeit seines Berufs, dem liebsten Menschen in seinem Leben solche Schmerzen zufügen. Er würde warten, bis sie sich meldet, und ihr alles erklären. All seine Erkenntnisse der letzten Nacht waren so klar wie nie. Er liebte sie und wollte ihr das fortan immer beweisen. Irgendwie spürte er auch wieder Leben in sich zurückkehren wie seit Monaten nicht mehr. Er war sich plötzlich ganz sicher, daß Yvonne ihm eines Tages verzeihen würde.
Die lange Hauptstraße bis zum Haus von Yvonnes Eltern war fast verkehrsfrei. Fünfhundert Meter, bevor die Straße in eine scharfe Rechtskurve verlief, fiel ihm plötzlich die Zigarette aus dem Mund. Hektisch versuchte er die rote Glut am Boden zu entdecken. Um besser sehen zu können, bückte er sich tief herunter und merkte auf einmal, daß sich, beim Seitwärtsdrehen der linke Fuß unterm Bremspedal festgeklemmt hatte. Schnell nahm er den rechten Fuß vom Gas und versuchte verzweifelt, den linken frei zu machen. Wilde Panik ergriff ihn, als er sich der Situation bewußt wurde.
Rasend schnell, so schien es ihm, sah er die Kurve auf sich zufliegen und dann das Haus in der Kurve, das Haus ... das Haus
Wie gelähmt lag Yvonne auf dem Fußboden. Nie wieder würde sie aufstehen. Am liebsten verhungern oder einfach sterben. Nachdem die beiden Polizisten ihr mit betretener Miene von Udo's Tod berichtet hatten, hielt sie die Abschrift der Überreste des Abschiedsbriefes in der Hand. Wie nur hatte sie bei all den schrecklichen Dingen, die ihr Liebster tagtäglich hatte miterleben müssen, nur an sich denken können?
In Udo hatte eine Zeitbombe getickt, das wußte sie jetzt. Dabei hatte sie nichts von alledem begriffen, was mit ihm und seinen Gefühlen passiert war. Am Liebsten würde sie, genau wie er, in den Tod gehen. Die ganze Abscheulichkeit seiner Erfahrungen und der Verbrechen, die er verarbeiten mußte, hatte er nicht mehr verkraftet. Anstatt an sich zu denken, hätte sie ihm wirklich helfen sollen.
Unterdessen hatte sie sich nur mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt und nicht erkannt, daß er am Ende war. Sein Freitod mußte das Ergebnis unvorstellbarer, innerer Qualen sein. Der Selbstmord war sein letzter Ausweg aus einer Welt voll Haß und Gewalt. Und sie hatte nicht mal zu ihm gehalten. Unvorstellbarer Schmerz lähmte sie in jeder Faser ihres Körpers.
Da die Polizei keinerlei Bremsspuren vor dem Haus gefunden hatte, in das Udo mit siebzig Stundenkilometern gekracht war, hatte man angenommen, es würde sich um einen Selbstmord handeln. Daraufhin wurde das verkohlte Wrack genauer untersucht. Wie zur Bestätigung fand man die Reste seines Abschiedsbriefes.
Es war also wahr, Udo hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Eine von der Polizei rekonstruierte Abschrift der letzten Zeilen ihres gequälten Geliebten hielt sie, seit die Beamten gegangen waren, in den zitternden Händen. Immer und immer wieder las sie unter markerschütternden Tränen diese Bruchstücke eines verzweifelten Abgesangs, den auch sie mit verschuldet hatte:
Welt . .. so voll . . . Grausamkeit . . . Augenblick mit großen Worten . . . falsch . . . habe . . . durch meine Arbeit. leiden. . . schäme mich.., nicht. . . nicht verdient.. . ich letzte Nacht . . . falsch. Ich weiß ja nicht . . . dieser Brief. . . liebe Dich so sehr, aber. . . wohl .. . sagen .. . Schluß. . . machen irgendwie . . . Erleichterung . . . Zu lange .. . Selbstsicherheit verletzt. Alles tut mir so leid. .
*Hier klicken zum Start des Erzählungsbandes -> “M.O. Und andere Geschichten aus dem 4. Reich” von Jens Thieme, 1994.