An meinen früheren Verleger
Das gönne ich Dir nicht, C!
In letzter Sekunde hat sie Dich eingeholt, Deine Courage, die sich hinkend auf einem Hasenfuß mit Augenklappe aus Selbstsucht und Ohrenschützern aus kleinkarierter Schlafmützigkeit an Dich heranschlich und Dir ihre an den Haaren herbeigezogenen Zweifel ins ehemals so wache Ohr rülpste.
Anfang 1992 war‘s noch relativ ruhig, das ist wahr. Aber hätte Dein „antifaschistisches Verständnis“, sofern Du es Dir nicht hast operativ entfernen lassen (was zwar gegen Deine lange hochgehaltene Auffassung von Moral und Würde spricht, aber dennoch der einzig nachvollziehbare Schluß wäre), nicht ein wenig mehr Mut verdient, als Du Dir — angesichts der lächerlichen Argumente dafür, in meinen Texten „herumzuvorsichteln“ — abgerungen hast?
Warst nicht Du es, der hinsichtlich einer grauenvollen Vision, die nur ein halbes Jahr später begann furchtbare Realität zu werden, nichts als politische Abhängigkeitsfloskeln zum Schutz Deiner geschäftlichen Interessen ins Feld führte?
Warst nicht Du es, der aufgeregt-schamvoll gestikulierte und mir vorwarf, ich hätte das Maß des klaren Wortes für erfundene Übertreibung verloren? Diese „erfundenen Horrorvisionen“, lieber C., haben inzwischen mehr Menschen in diesem Lande das Leben gekostet als die fanatischen Hinrichtungsaktionen der RAF in zwanzig Jahren.
Tausende und Abertausende sind in Angst und Schrecken versetzt. Sorgsam ausradierte Holocausterinnerungen wirken inzwischen wie ein Abbild der Gegenwart. In verschiedenen Stadtteilen mancher Metropolen herrscht Krieg zwischen rechtsextremistischen und linksradikalen Alleingelassenen, den Erben konsumbesessener Profitgeier und ignoranter Selbstdarsteller.
Inzwischen werden amerikanische Rockstars, Schweizer Touristen und deutsche Schüler mit türkischen Eltern an den Türen deutscher Diskotheken abgewiesen. Sie wollen wieder unter ihresgleichen sein, ungestört von der restlichen Welt, zu der sie sich wieder mal nicht zählen.
Deutsches Blut ist in den Köpfen Zehntausender blinder Fanatiker wieder reiner geworden. Nur ein halbes Jahr nachdem Du mit kleinlauter Bestimmtheit über meinen Kopf hinweg entschieden hast, Deine zahlungskräftige rechtskonservative Kundschaft Deiner vielleicht niemals vorhanden gewesenen Standhaftigkeit vorzuziehen, brach das Monster unbeachtet von allen, die sich so blind und klein machen lassen wie Du, aus dem Gebüsch und begrub unter sich, was Du angesichts solcher Käuflichkeit bedauerlicherweise scheinbar verlernt hast.
So gönne ich‘s Dir dann doch!
Nicht von Herzen und nicht aus der Seele. Aber die Vorstellung genügt, alle vom Rassenhaß Geplagten, hätten einen Teil ihres unermeßlichen Leids solchen saftlosen Gestalten wie Dir zu verdanken. Vielleicht, ziemlich sicher sogar hätten die letzten beiden von Dir gestrichenen Worte die Steinewerfer und die Randalierer nicht aufgehalten. Vielleicht aber hätten sich durch die direkte Konfrontation und die scheinbar übertriebene Weissagung doch einige Wankende von der Notwendigkeit des Handelns überzeugen lassen.
Du hast dieses Loch in der schützenden Mauer aus Menschlichkeit und Toleranz genauso mitvergrößert wie all die beifallspendenden Ekelpakete in Rostock und Hoyerswerda.
Vielleicht gab es noch mehr Gründe, mein Buch einem anderen Verlag anzuvertrauen. Aber dieser Grund war mir der wichtigste, daß man mich brüllen läßt, wie ich es muß, angesichts so vieler Stummer und Dummer, die dermaleinst dafür verantwortlich sein werden, daß aus dieser, von unseren Kindern geborgten Welt die schrecklichste aller düsteren Visionen erwächst: Das Vierte Reich!
*Hier klicken zum Start des Erzählungsbandes -> “M.O. Und andere Geschichten aus dem 4. Reich” von Jens Thieme, 1994.