Wiegenlied für meine ungeborene Tochter
Sie greifen jeden Morgen schlafgerädert nach ihren abgeschabten Aktentaschen, Anna.
Sie drängen sich in U-Bahnen, Busse und Straßenbahnen in der rush-hour, tun täglich das, was ein funktionierendes System von seinen Bausteinen abverlangt.
Du kannst nicht sehen, was wirklich in ihnen steckt, Kind.
Nach verrichteter Arbeit treten sie ans Tageslicht und befreien sich von ihren selbst auferlegten Zwängen für ein paar Stunden, indem sie sich wahllos treffen und über kommende Tage sinnieren, die sie doch nicht selbst zu gestalten in der Lage sind.
Hüte Dich, Anna, zu glauben, du könntest spüren wann es soweit ist.
Sie gehen mit ihren Kindern allwochenendlich in den Wäldern spazieren, schauen sich bunte Filme an, pflegen ihre Körper in Gemeinschaftssportlichkeit vor den gemütlichen Grillabenden oder ruhen sich einfach aus von den Strapazen der alltäglichen Funktionalität.
Sie prüfen ihre Standhaftigkeit im Leben vor wachsenden Aufgaben, die den vorausbeschriebenen Weg in‘s Lebensglück begleiten. Sie eifern ihren Träumen entgegen, Anna.
Du hast nicht die geringste Chance zu erkennen, was und wann es passieren wird.
Sie bilden, lieben, übertölpeln, helfen, bestehlen, schlagen und liebkosen sich, erreichbar für jeden, der dabei sein will. Sie kaufen in hellen, buntbeschilderten Supermärkten ihre Waren ein und fliehen zu Millionen einmal jährlich in südliche Regionen oder anders wohin in die Welt, um etwas zu erleben, das ihr Herz erwärmt.
Aber irgendwann wieder, Anna Liebling, ist es soweit.
Irgendwann, schon bald, rufen sie nach Einigkeit und warten auf den großen Mann. Sie sagen wieder “JA “, reißen dir deinen Liebsten aus dem Bett und bringen ihn nie mehr zurück. Sie schlagen alten Männern die Zähne ein und verbrennen gröhlend Menschen in ihren Häusern.
Sie schneiden dir deine Daumen ab und treiben dir rostige Schrauben unter die Fingernägel.
Sie laufen in alle Richtungen und zertrümmern die Schädel von Babys und schwangeren Frauen.
Sie vergewaltigen junge Mädchen wie dich, Anna, und erschlagen sie hinterher mit Eisenstangen.
Sie tun‘s wieder, Anna, schon bald.
Komm, wischen wir uns die Tränen aus dem Gesicht, Kind.
Bald schon werden sie kommen und alles wieder genauso tun.
*Hier klicken zum Start des Gedichtbandes -> “Kopfgeburt - mit der Glocke am Kragen” von Jens Thieme, 1992.